Das Reiseticket
Es ist die größte und aufregendste all unserer Reisen im Leben, und doch schieben wir sie immer wieder auf. Das mittlerweile ausgeblichene Ticket für diese Reise schleppen wir jahrelang in unserer Brieftasche mit uns herum, holen es ab und zu heraus und begutachten es interessiert, doch es scheint noch nicht so weit zu sein. Es gab bisher Wichtigeres zu erledigen, wir wollten doch nichts verpassen und überall dabei sein. Die anderen Reisen an wunderschöne Orte waren außerdem attraktiver, die Welt da draußen möchte schließlich von unseren Augen erfasst werden und wir möchten uns in ihr einen angemessenen Platz ergattern.
Doch irgendetwas in den letzten Jahren ist anders geworden. Die Wirklichkeit wie wir sie kannten hat sich verschoben, droht aus der Balance zu kippen und löst sich vor unseren Augen auf. Wir haben uns von alten Freunden und Bekannten getrennt, haben das Interesse an vielen Dingen verloren die wir zuvor noch aufregend fanden, haben schlagartig den Beruf gekündigt, oder uns von unserem Partner getrennt. Teilweise bedienen wir alte Gewohnheiten und unser alltägliches Tun reflexartig, phlegmatisch und völlig abgestumpft. Vieles von dem was wir im Außen sehen nimmt irrwitzige Erscheinungsformen an. Die Welt um uns herum scheint sich zu verrücken. Oder sind wir es?
Parallel dazu stellt sich bei uns eine Sättigung ein und teilweise sind wir regelrecht von allem gelangweilt. Auf der anderen Seite wird das Festhalten an den Idealen und das Bedienen der uns gewohnten Strukturen übermäßig anstrengend und raubt uns die letzten Kräfte. Wir sehen, dass viele Menschen um uns herum versuchen die Fassade aufrecht zu halten. Im betriebsamen Beschäftigungswahn, abgelenkt von glänzenden Gadgets und Apps, von einem Termin zum nächsten hüpfend, scheint es als würde alles beim Alten bleiben und ganz easy funzen.
Doch jetzt stehen wir da und es funzt eben nicht so einfach. Zunächst ärgern wir uns über jene, welche dieses Treiben nicht durchblicken. Wir möchten sie an den Schultern packen und wachrütteln. Wir wollen aufstehen und rebellieren, unseren Ärger laut in die Welt brüllen. Doch auch dieser Zustand erschöpft sich nach einer Weile, läuft ins Leere aus und die Belange des weltlichen Treibens tangieren uns irgendwie nicht mehr.
Als wäre dies noch nicht genug, zeigen sich zeitgleich all unsere Lebensthemen, die wir bisher meisterhaft unterdrückt hatten oder jahrelang vor uns hingeschoben haben. Möglicherweise stellen sich unliebsame körperliche Symptome ein, die sich in Form von Krankheiten darstellen. Oder es gibt ein brennendes Thema, dass in uns rüttelt und schmerzt, als würden wir mit einer gelockerten Schraube im Kniegelenk herumhüpfen.
Das Ticket für unsere Reise drängt sich uns regelrecht auf, es will beachtet und benutzt werden. Schließlich ist es das einzige Ticket, welches uns aus der ganzen Show herausführen kann und auch wird. Es ist das Ticket für die Reise zu uns selbst.
Auf dem Ticket steht:
„Der, der ich war bin ich nicht mehr und doch werde ich zu dem, der ich bin.“
Jetzt ist klar, warum wir diese Reise noch nicht angetreten sind. Nur Verrückte tun das. Doch sind wir das nicht schon geworden? Und sollten wir jetzt jubeln oder schreien? Vielleicht ist es einfacher, wenn wir uns dem Zitat von Mark Twain zuwenden: „Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.“ Also doch jubeln – denn erst durch unser Verrücken sind wir in der Lage, unsere vorherige Position zu erkennen. Die Reise zu uns selbst beinhaltet den Perspektivenwechsel. Wir nehmen die Rolle des Beobachters ein. Wie Neugeborene, lernen wir uns neu zu sehen. Und, ob wir wollen oder nicht, jetzt befinden wir uns schon mitten auf der Reise. Es gibt ab dieser Stelle kein Zurück mehr. Wir haben das erste Reiseziel erreicht.
Ich weiß nichts
Bereits bei der nächsten Station der Reise erkennen wir, dass wir im Grunde nichts wissen. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, schmunzelt uns Sokrates zu. Zugegebenermaßen kann dieser Prozess ziemlich ernüchternd sein, doch es kommt dem Leeren des Gefäßes gleich, wie wir es aus dem Buddhismus kennen. Von dem was vorher war, bleibt nur noch ein Echo, doch auch das kommt zum Erliegen. Im Grunde genommen wollten wir hier schon immer hin. Viele versuchten es mit Alkohol und Drogen, andere mit Arbeitsexzessen im Burnout-Rausch, oder mit der Keule der totalen Ablenkung im Spiele-Zirkus der uns bekannten Matrix. Doch das war natürlich ein anderes Ticket.
Jetzt und hier dürfen wir lernen, die nächste Reisestation ins Hier und Jetzt anzupeilen.
Jetzt bin ich hier und ich erkenne mich
Während unserer Reise wird uns plötzlich klar, dass wir alle Reisestationen gleichzeitig anfahren. Die Frage taucht auf, ob es denn überhaupt ein Ziel gibt. Und gab ab es einen Anfang der Reise? Ja, das klingt jetzt nach psychologischer Gehirnakrobatik, doch im Grunde genommen nähern wir uns dem vorläufigen Finale. Das komplizierteste aller Ziele ist gleichzeitig das Leichteste. Es geht nur um das Erkennen, dessen wer wir sind. Du bist das Ziel. Während des Erkennens wirst du ganz. Du wirst heil.
I´m afraid the masquerade is over
Das Schöne an der ganzen Geschichte ist, dass unsere Seele uns früher oder später eh auf diese Reise schickt. Wir können noch so viel strampeln, herumwursteln, oder den Kopf in den Sand stecken, es kommt der Zeitpunkt an dem die Masken fallen. Das der Zeitpunkt dafür jetzt ist, erklärt sich von selbst. Doch genau andersherum wie in dem Jazzklassiker, ist es dann nicht vorbei mit der Liebe. Wir haben sie gefunden. Denn was hinter der Maske zum Vorschein kommt ist wunderschön. Und dieses schöne Wunder, das bist du …